Traum und Schatten

Traum und Schatten

Ich* traf sie vor einigen Jahren in einer kleinen Cocktailbar in meiner kleinen Stadt. Oder vielmehr: Sie traf mich. Erkannt hätte ich sie auf den ersten Blick nicht mehr.

“Hi, I’m Martina!** Do you remember me?”

Ob ich sie noch aus der Schule kenne, fragt sie mich. Ihr Deutsch habe sie ja so sehr verlernt in den ganzen Jahren.

Selbstverständlich erinnere ich mich. Martina. Was war ich verknallt in sie, damals, in der sechsten Klasse. Lutscher und Karamelbonbons vom Bahnhofskiosk habe ich ihr mitgebracht. Meine erhoffte Wirkung hatte das nicht. Trotzdem war ich traurig, als sie die Schule verließ. Warum sie ging, habe ich vergessen.

Ihre Eltern trieben sie damals sehr an. Ein erfolgreiches Model sollte sie werden, und anfangs, ja, anfangs sah es so aus, als würden sich die ganzen Qualen, die Zahnkorrekturen und das Fettabsaugen am Ellenbogen auszahlen. Weltbestes Nachwuchsmodel war sie mal, die Bild und der Stern berichteten. Doch irgendwann, irgendwann wurde es still um Martina. Die Medien konzentrierten sich auf andere Personen und Dinge. Ihr Vater wurde wegen Hinterziehung im großen Stile aus seinem Job entlassen.

Und jetzt steht sie vor mir, Martina, mein Frühstjugendschwarm, die braune Mähne verwuschelt, die braunen Augen immer noch schön, aber mir irgendwie fremd. Erzählt mir in einer wilden Mixtur aus Englisch und Deutsch von ihrem Modelleben, von Glanz und Glamour und Koksparties mit Mickey Rourke.

“Would you buy me a drink?” sagt sie schließlich. Auf meinen fragenden Blick erwidert sie, dass sie ja selbst zahlen würde, aber kein Geld dabei habe. Als ich freundlich ablehne, verabschiedet sie sich und geht weiter. Sie geht weiter und fragt nach Drinks, so ziemlich alle, die sich in der kleinen Cocktailbar aufhalten.

Ich will sie fragen, was aus dem chaotischen Mädchen geworden ist, dass auch ohne OPs und kosmetische Korrekturen wunderschön war, im Sommer im Freibad lag und gerne Front 242 hörte. Ob sie merkt, dass der Traum ihrer Eltern, den zu leben sie gezwungen wurde, zu ihrem Lebensalbtraum geworden ist. Und was das jetsettende Model denn eigentlich in dieser kleinen Stadt sucht, so nahe ihrer bürgerlichen Heimat.

Aber ich lasse es sein.

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*Nun, eigentlich nicht ich. Aber sie kenne ich trotzdem, und der Rest ist auch nicht erdacht.

**Sie heißt natürlich nicht Martina. Aber die Wahrheit ginge einfach ein wenig zu weit.

10 thoughts on “Traum und Schatten

  1. Dabei hat wohl alles so gut mit ihr angefangen… Ich meine sie hat Front242 gehört! Hab ich auch, sieh was aus mir geworden ist!

  2. Aber traurig natürlich schon, wie sich “Bilder” von einem Menschen plötzlich über die Jahre verschieben können!

  3. Auch Front 242 scheint kein Garant für ein unverkorkstes Leben zu sein. Schade eigentlich.

  4. So, oder sie heiraten schwarze Schmusesänger und machen Model-Casting-Shows. 🙂

  5. Eine traurige Gescichte. Wie die Zeit die Menschen verändert. Aber verstehe ich das jetzt richtig. Dir wurde die Geschichte nur erzählt?

  6. Die Begegnung hatte in der Tat jemand anderes. Aber Gedanken und Gefühle dazu sind meine.

  7. Ja, traurig sowas. Auch, dass das mit den Lutschern und Karamellbonbons nicht klappte. Ich hatte es damals mit Gummibärchen probiert. War aber auch nicht von Erfolg gekrönt 🙁

  8. @Lars: Ganz richtig. Aus den Augen verlieren sollten wir sie trotzdem nicht.

    @Träger des Lichts: Aber es war wenigstens eine wichtige Lektion, dass Süßigkeiten nicht unbedingt zum Ködern von Süßem geeignet sind, oder nicht? 🙂

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