Angel of Westbahnhof (2)
Neulich abends war er weg. Einfach so.
Die an allen ungeschützten Stellen des Körpers nagende Kälte und die fast greifbare Dunkelheit, die den Frankfurter Westbahnhof an winterlichen Abenden beherrschen, gewannen mit einem Schlag neue Qualitäten. Albern, sagte ich mir, sich Gedanken über einen Plastikkitschengel zu machen, der im Fenster eines in hässlichstem Schmutzgelb verklinkerten Bahnhofsgebäudes steht. Und noch viel alberner, sein Verschwinden zu bedauern.
Einige Tage später, als ich schon fast vergessen habe, dass er nicht mehr da ist, sehe ich ihn wieder. Im Bahnhofscafébistroschnellimbissdingens. Mitten im Raum sitzt er, auf einem Tisch, sein Plastikbuch lesend. Noch während ich mein Handy gezückt halte, um ein Beweisfoto von fragwürdiger Qualität zu schießen, spricht die Pächterin mich an.
“Unser Engelchen. Goldig, nicht?” sagt sie freundlich.
Dass ich ihn eigentlich ziemlich grenzwertig finde, will ich ihr nicht einfach so ins Gesicht sagen, schließlich haben wir keine offenen Rechnungen.
“Ich habe ihn immer vom Bahnsteig aus im Fenster stehen sehen und mich gewundert, wohin er verschwunden ist”, entgegne ich stattdessen wahrheitsgemäß.
Sie lächelt, ich lächle zurück und verlasse das Café. Ich finde ihn noch immer kitschig, den goldbesprühten Plastikengel, und würde ihn mir nie auch nur in die Nähe meiner Wohnung stellen, so viel ist sicher.
Aber in einer der hinteren Ecken meiner Seele sitzt ein Teil, der sich immer noch über ihn freut.
Und ich lächle.
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– Was machst du denn hier?
– Ich sitze hier und lese mein Buch. Damit hättest du nicht gerechnet, hm?
– Wenn ich ehrlich bin: Nein, das habe ich wirklich nicht. Wie, ähm, geht’s den Goldlöckchen?
– Die nerven immer noch. Aber die Menschen, die hier hereinkommen, sind angenehmer als die, die am Fenster vorbeilaufen.
– Ich wusste gar nicht, dass du liest. Ich dachte, du würdest beschämt nach unten schauen, weil du dein Dasein an einem so tristen Ort fristen musst.
– Ich kann gar nicht lesen. Aber hier es ist angenehmer, in das Buch zu starren als in irgendeine andere Richtung. Außerdem: Auch Engel brauchen ihre kleinen Geheimnisse. Du kennst jetzt meines. Mist.
– Ich fürchte, ich werde es nicht für mich behalten können. Schließlich mag ich dich nicht besonders.
– Ach, weißt du, die Menschen hier, die mich angeblich goldig finden, sperren mich elf Monate im Jahr in eine Abstellkammer. Zugegeben, es gibt Tageslicht, aber das erhellt auch nur eine Umgebung, die man lieber in Dunkelheit gehüllt weiß.
– Halte mal kurz still.
– Wenn du mich nicht magst und so kitschig findest, wieso fotografierst du mich dann?
– Das geht dich nichts an.
– Ach, glaubst du vielleicht, nur weil ich aus weißem Plastik bin und Flügel habe, kannst du einfach meine Persönlichkeitsrechte verletzen?
– Du hast die Goldlöckchen vergessen.
– Und du hast wohl vergessen, dass du ganz schön sentimental sein kannst, wenn du nicht gerade gemein zu mir bist.
– Ich muss jetzt gehen. Wir sehen uns. Hier oder im Fenster.
– Jaja. Tschüss auch.
– War schön, dich wiederzusehen.
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All meinen Lesern, Mitbloggern und allen anderen wünsche ich wundervolle Feiertage!